Einleitende Gedanken zu Johannes 10

In diesem Kapitel beginnt der inspirierte Schreiber Johannes ein neues Thema, das aber eng verknüpft ist mit den vorhergehenden Ereignissen in Kapitel 9. Es spricht unsere Herzen besonders an, dass wir den Herrn Jesus als den Guten Hirten vorgestellt finden; aber hier wird uns auch noch eine weitere, besondere Seite dieser Herrlichkeit gezeigt: dass Er als der Gute Hirte sein Leben in den Tod gibt.

Dieses Kapitel handelt von dem Hirten, ein Thema, das wir gut kennen und das uns oft schon angesprochen hat. Bereits im Alten Testament wird dieser Hirte vorausgesagt. Zum ersten Mal hören wir davon im Segen Jakobs für seinen Sohn Joseph: „Von dort ist der Hirte, der Stein Israels“ (1. Mo 49,24). Weitere sehr gut bekannte Schriftstellen sind Psalm 23 oder Hesekiel 34. Gerade Hesekiel 34 hat erstaunliche Parallelen zu Johannes 10; in den falschen Hirten sehen wir die Pharisäer, und in dem, der sagt: „Siehe, ich bin da, und ich will nach meinen Schafen fragen und mich ihrer annehmen“ (V. 11), hören wir die Stimme des guten Hirten.

Wenn wir an einen Hirten denken, dann stehen Dinge wie Nahrung, Schutz, Leitung und Führung vor unseren Herzen; moralische Qualifikationen in einem Hirten-Herzen. Alles Dinge, die der Herr Jesus für seine Schafe tut. Hier in Johannes 10 haben wir den Herrn Jesus als den Guten Hirten, der sein Leben gibt; in Hebräer 13,20 ist Er der große Hirte der Schafe, den Gott aus den Toten wiedergebracht hat; und Er ist auch der Erzhirte, der Oberste der Hirten, der einmal in der Zukunft offenbar werden wird (s. 1. Pet 5,4).

Um die vor uns liegenden Verse gut verstehen zu können, benötigen wir zwei Schlüssel, damit wir nicht zu falschen Auslegungen und falschen Anwendungen kommen. Der erste Schlüssel besteht darin, dass wir diesen Abschnitt unbedingt im Zusammenhang mit dem vorhergehenden sehen müssen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn wenn wir das nicht tun, kommen wir zu falschen Schlussfolgerungen.

Natürlich ist es ein neues Thema, dass der Herr Jesus mit den Worten „Wahrlich, wahrlich …“ nachdrücklich betont, aber Er fährt mit den folgenden Worten fort: „ich sage euch …“; und das gilt den Pharisäern und den übrigen Zuhörern, die seine abschließenden Worte in Johannes 9,39–41 gehört hatten. Der Herr Jesus spricht jetzt von den Schafen des Hauses Israel, zu denen Er als der Hirte kommt, und Er separiert die Schafe in zwei Gruppen: Schafe, die in dem Schafhof bleiben, und Schafe, die herausgeführt werden. Das ist genau die Unterscheidung, die Er am Ende von Kapitel 9 gemacht hatte: solche, die blind blieben, und solche, die sehend waren; solche, die dem Hirten nicht folgten, und solche, die dem Hirten folgten. Der Blindgeborene aus Kapitel 9 war eins von den Schafen, das aus dem Schafhof hinausgeworfen worden war. Und jetzt zeigt der Herr Jesus, dass dieser Blinde einerseits unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung der jüdischen Führer hinausgeworfen worden war; andererseits aber unter der Perspektive des göttlichen Handelns vom Herrn Jesus herausgeführt worden war.

Der zweite Schlüssel, den wir gut erfassen müssen, ist das richtige Verständnis über die verschiedenen Türen in den folgenden Versen. Für einen ersten Überblick sollen sie hier kurz erwähnt werden, bevor wir in die Betrachtung dieser Verse einsteigen:

  • die erste Tür ist die Tür in den Schafhof (s. V. 2); das ist die Tür der Schriften, die den Herrn Jesus als den wahren Hirten legitimierten, wie Er in den Schriften des Alten Testaments angekündigt worden war
  • die zweite Tür ist die Tür aus dem Schafhof heraus (s. V. 7); das ist der Herr Jesus, der für die jüdischen Schafe, die Ihm angehören, der Weg ist, dieses jüdische System zu verlassen
  • die dritte Tür ist die Tür der Errettung (s. V. 9); das ist der Herr Jesus, in dem wir Errettung mit all den herrlichen Folgen finden; diese Tür hat nichts mehr mit dem Schafhof Israels zu tun

Nachdem die Worte und die Werke des Sohnes Gottes abgelehnt worden sind, zeigt der Herr Jesus hier in diesem Kapitel, dass eine neue Zeit kommt, die christliche Haushaltung. Und Er stellt uns in diesem Kapitel vor, wie diese Veränderung vor sich geht: Er kommt zu seinen Schafen in dem jüdischen Schafhof, führt seine Schafe dort heraus und bringt sie in einen neuen Segensbereich, in den Bereich der christlichen Vorrechte.

Um diese Wahrheit zu entwickeln, benutzt der Herr Jesus drei Bilder, die aufeinander folgen. In den Versen 1–6 ist der Herr Jesus der Hirte. In den Versen 7–9 sehen wir ein neues Bild, den Herrn Jesus als die Tür. Und ab Vers 10 haben wir dann ein drittes Bild, da ist der Herr Jesus wieder der Hirte. Diese Bilder dürfen wir nicht miteinander vermischen, sonst haben wir mit den verschiedenen Türen ein Problem. Aber sie hängen zusammen und bauen aufeinander auf. Es ist einfach wunderbar, wie der Herr Jesus seine Gedanken entwickelt. Zuerst ist Er der Hirte, der zum Volk Israel kommt und seine eigenen Schafe aus dem Judentum herausführt. Dann ist Er die Tür, die diese gläubigen Menschen aus dem Judentum berechtigt, dieses System zu verlassen; und Er ist auch die Tür der Errettung, um in diese christliche Freiheit einzugehen. Und in diesem neuen Bereich ist Er der Hirte, der eine Herde hat und der eine Beziehung zu seinen Schafen hat.

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe eingeht, sondern woanders hinübersteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür eingeht, ist Hirte der Schafe“ (V. 1.2).

Gerade erst hatte der Herr Jesus noch zu den Pharisäern gesprochen, und ihnen gilt jetzt auch die erste Bemerkung des Herrn in diesem Kapitel. Offensichtlich gab es in der Vergangenheit solche, die eben nicht den Weg durch die Tür gewählt hatten, sondern auf andere Weise in den Hof der Schafe gelangt waren und sich dadurch als Diebe und Räuber erwiesen hatten.

Der Hof der Schafe ist Israel; dieses Volk hatte Gott sich als Eigentumsvolk erwählt aus allen Völkern (s. 5. Mo 7,6), es wohnte abgesondert und rechnete sich nicht zu den Nationen (s. 4. Mo 23,9). Der Herr Jesus selbst hatte während seines Dienstes zu einer kanaanäischen Frau, die Ihn als Sohn Davids wegen ihrer besessenen Tochter um Hilfe anflehte, gesagt: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24). Als Sohn Davids ist Er für Israel gekommen, und diese verlorenen Schafe sind die, die hier seine Stimme hören und von Ihm herausgeführt werden.

Ein Dieb ist jemand, der einem anderen etwas wegnimmt, was ihm selbst nicht zusteht. Ein Räuber ist jemand, der sich mit Gewalt etwas nimmt, was ihm nicht gehört. Genau das hatten diese jüdischen Führer getan. Sie hatten sich gleichsam die Stellung des Herrn angemaßt, sie hatten Ihm das Recht geraubt, was allein Ihm zustand und hatten sich dieses Recht für sich selbst mit Gewalt angeeignet, indem sie Ihn verworfen und hinausgestoßen hatten. Sie waren die Hirten Israels, die sich selbst geweidet hatten und mit Strenge und mit Härte über die Herde geherrscht hatten (s. Hes 34,1–6). Sie waren nicht durch die Tür in den Hof der Schafe gelangt, sondern woanders hinübergestiegen.

Der Gesetzeslehrer Gamaliel hatte einmal von solchen gesprochen, die über die Mauer gestiegen waren. Als die Führer der Juden die ersten Apostel – die wahren Schafe, die dem echten Hirten, der durch die Tür gekommen war, gefolgt waren – gefangen genommen und unter Druck gesetzt hatten, sprach er in Apostelgeschichte 5,35 ff. eine Warnung aus. Dieser weise und ernste Jude hatte erkannt, dass in Theudas und Judas, dem Galiläer, falsche Räuber und Diebe über die Mauer gestiegen waren, um die Juden hinter sich herzuziehen.

Diese erste Tür unterscheidet sich also von den beiden anderen Türen, weil der Herr Jesus nicht von ihr sagt, dass Er diese Tür sei. Sie hat daher eine völlig andere Bedeutung, und sie ist zunächst einmal geschlossen. Sie war auch die ganze Zeit über geschlossen, bis der Herr Jesus kam. Diese Tür hatte sogar einen Türhüter, d. h., sie konnte nicht so einfach von jemandem geöffnet werden. Sie wurde bewacht und nur geöffnet, wenn es dazu eine gewisse Legitimation gab. Man brauchte also eine Voraussetzung, um in den Hof der Schafe gehen zu können.

Das macht deutlich, dass diese Tür bildlich für die Schriften des Alten Testaments steht, und dass derjenige, für den diese Tür geöffnet wird, der Erfüller sämtlicher alttestamentlichen Prophezeiungen sein muss. Das kann nur auf eine einzige Person zutreffen, nämlich auf den Herrn Jesus selbst. Er war der wahre Hirte, und die jüdischen Führer, die unberechtigterweise seinen Platz eingenommen hatten, waren es eben nicht. Viele prophetische Vorhersagen haben sich im Kommen des Herrn Jesus buchstäblich erfüllt (s. z. B. Jes 7,14; Dan 9,26; Mich 5,1 u. a.).

„Diesem öffnet der Türhüter, und die Schafe hören seine Stimme, und er ruft seine eigenen Schafe mit Namen und führt sie heraus“ (V. 3).

In dem Türhüter können wir ein Bild des Heiligen Geistes sehen, der gleichsam anhand der Schriften prüft, ob dieser Person, die da kommt, geöffnet werden kann oder nicht. Bei dem Herrn Jesus war das vollkommen der Fall, weil sämtliche Prophezeiungen sich in Ihm erfüllt haben. Er hatte als Einziger die Legitimation, in den Hof der Schafe hineinzugehen. Er kam also in das Seine – aber die Seinen nahmen Ihn nicht an (s. Joh 1,11). Er wurde verworfen in seiner Person, in seinen Worten und in seinen Werken.

Dieser Hof der Schafe war begrenzt und eingeengt durch das Gesetz, und dieser eingeengte Bereich empfängt jetzt eine völlig neue Botschaft, die Botschaft der Gnade. Jetzt können wir in Johannes 1,12 fortsetzen: „So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.“ Das finden wir hier in Vers 3: Es gibt einige Schafe aus dem jüdischen Schafhof, die an Ihn glauben. Gerade erst haben wir einen solchen Fall in Johannes 9 vor uns gehabt. Dieser Blindgeborene ist einer von denen, die jetzt aus diesem Schafhof hinausgeführt werden. Und in Vers 16 werden wir finden, dass die aus dem jüdischen Schafhof zusammen mit den Gläubigen aus den Nationen eine neue Herde bilden.

Wir haben es bis Vers 16 also mit drei Gruppen von Schafen zu tun. In dem jüdischen Schafhof sind zwei Gruppen, nämlich die Schafe und seine eigenen Schafe. Das eine sind die ungläubigen Juden, und das andere sind die Juden, die zum Glauben an den Herrn Jesus gekommen sind. Nur diese werden aus dem jüdischen Schafhof hinausgeführt in den christlichen Bereich. Und dort werden sie dann in Vers 16 mit den anderen Schafen zu einer Herde mit einem Hirten zusammengefügt. Die anderen Schafe sind die Gläubigen der christlichen Haushaltung, die zu den Nationen gehören.

Wenn es hier heißt, dass die Schafe die Stimme des Hirten hören, so sind damit zunächst einmal alle Juden, das Volk als solches, gemeint. Es ist ein gewisser Unterschied zu Vers 27, wo nur von den Schafen des Guten Hirten gesprochen wird. Hier zu Beginn von Vers 3 sind es die Schafe allgemein, die die Stimme des Hirten hören. Doch nur seine eigenen Schafe, also die, die seine Botschaft annehmen, führt der Hirte aus dem Schafhof hinaus. Seine Stimme richtete sich an alle Menschen aus dem Volk der Juden, viele aber von ihnen haben den Herrn abgelehnt. Wir könnten nun fragen, ab wann diese einzelnen Schafe eigentlich zu den eigenen Schafen des Hirten geworden sind. Sie werden schon seine eigenen Schafe genannt, wenn sie noch im jüdischen Schafhof sind. Wie sind sie seine Schafe geworden? Der Vater hat sie Ihm gegeben (s. Joh 6,37; 17,6). Deshalb wendet Er auch so große Fürsorge und Liebe für sie auf.

Wir finden in Johannes 1,45 ein sehr deutliches Beispiel davon, wie durch die Wirksamkeit des Türhüters in den Schriften die Bestätigung hinsichtlich des wahren Hirten gefunden wird. Philippus war es aus den Schriften des Alten Testaments ganz klar, dass es sich bei dem Herrn Jesus um den handelte, der mit vollem Recht in den jüdischen Schafhof gekommen war. Die wahren Schafe konnten erkennen, dass der Herr Jesus alle Voraussagen der Propheten und sogar von Mose an in seiner Person erfüllte. Ein ähnliches Zeugnis legt Petrus vor Kornelius und den bei ihm Versammelten ab (s. Apg 10,36- 43). Es war auch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, die Simeon zu dem wunderbaren Ausspruch über den Herrn Jesus in Lukas 2,29–35 führte.

Welch eine große Beruhigung, dass der wahre Hirte seine eigenen Schafe mit Namen kennt! Das Nennen bei dem eigenen Namen bedeutet Beziehung! Zwischen den Schafen, die nur ein jüdisches Bekenntnis hatten, und seinen eigenen Schafen besteht in dieser Hinsicht ein großer Unterschied: Zu seinen eigenen Schafen hat der Hirte eine lebendige Beziehung. Jedes einzelne Schaf spricht Er persönlich mit seinem Namen an.

Ist dieses Hinausführen der eigenen Schafe ein heute noch andauernder Prozess? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Damals war der jüdische Hof noch existent. Das Judentum war zu der damaligen Zeit, als der Herr auf der Erde lebte, noch nicht verworfen. Und daraus wurden seine eigenen Schafe herausgeführt. Heute ist das Judentum zeitweilig von Gott beiseitegesetzt worden, heute ist weder Jude noch Grieche. Alle sind gleichermaßen verloren, für alle gilt gleichermaßen die Notwendigkeit der neuen Geburt, alle sind gleichermaßen Glieder des einen Leibes. Heute besteht der jüdische Hof in Gottes Augen zeitweilig nicht mehr. Deshalb kann auch heute niemand aus diesem Hof herausgeführt werden. Natürlich kommen heute noch Juden zum lebendigen Glauben, aber man kann das Herausführen aus dem jüdischen Hof heute nicht mehr auf sie anwenden.

„Wenn er seine eigenen Schafe alle herausgeführt hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen“ (V. 4).

Wenn der Herr diese jüdischen Schafe, die Ihn im Glauben angenommen haben, aus dem jüdischen Schafhof hinausführt, führt Er sie nicht in einen anderen Hof hinein. Er geht vor ihnen her; und wie wir später in diesem Kapitel finden werden, führt Er sie mit den anderen Schafen, die nicht aus diesem Hof sind, zusammen (s. V. 16). Zwischen diesen beiden Gruppen von Gläubigen wird es keine Zwischenwand der Umzäunung mehr geben (s. Eph 2,14); sie werden alle in die christliche Freiheit geführt und es wird eine Herde und ein Hirte sein.

Das griechische Wort, das für das Hinausführen hier in Vers 4 gebraucht wird, steht auch in Johannes 9,34.35, wo wir gelesen haben, dass die Pharisäer den Blindgeborenen aus dem jüdischen System hinausgeworfen hatten. Es ist ein anderes Wort als noch in Vers 3. In Johannes 19,17 ist der Herr Jesus aus der Stadt Jerusalem hinausgegangen, und in Lukas 24,50 hat Er seine Jünger hinaus bis nach Bethanien geführt. Zuerst geht der Hirte hinaus, dann führt Er die Seinen hinaus.

Jetzt werden zwei Tatsachen beschrieben: Der Gute Hirte geht voraus, und die Schafe folgen Ihm. Diese beiden Tatsachen waren damals wahr und sie gelten auch heute noch. Wir können mit dem Vorausgehen zwei Punkte verbinden, und auch mit dem Folgen: Vorausgehen bedeutet sowohl Führung als auch Schutz vor den Gefahren. Alle, die an den Herrn Jesus glauben, haben einen Hirten, der seine Schafe führt und der seine Schafe beschützt (vgl. Joh 17,11.12; 18,8). Der Schutz der Mauern des Schafhofs ist bei Weitem nicht so groß wie der Schutz des Hirten, der vor seinen Schafen hergeht! Folgen bedeutet Gehorsam und auch Vertrauen. Weil wir wissen, dass unser Hirte ein guter Hirte ist, der den Weg kennt und vollkommen führt, vertrauen wir Ihm. Und wir gehorchen Ihm, wenn Er uns einen Weg anweist.

Der Herr wird auch keine eigenen Schafe in dem Schafhof zurücklassen, Er führt sie alle heraus. In den Evangelien haben wir schon mehrere Beispiele dafür vor uns gehabt, und auch in der Apostelgeschichte finden wir immer wieder solche, die aus dem Judentum zum christlichen Glauben kamen – der Herr führt sie alle heraus!

Die Schafe folgen dem Hirten, weil sie seine Stimme kennen. Wir haben hier keine Ermahnung, dem Herrn treu nachzufolgen, sondern eine Schilderung eines tatsächlichen Zustands. Wer ein Schaf des Hirten ist, der hört Ihn und der folgt Ihm. Die Schafe kennen grundsätzlich die Stimme ihres Hirten, und weil sie diese Stimme kennen, folgen sie dem Hirten.

Wieso ist das so? Weil sie nichts anderes mehr brauchen. Genauso war es bei dem Blindgeborenen. Petrus hatte in Johannes 6,69 gesagt: „Wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist.“ Wenn man diese Glaubensüberzeugung bekommen hat, braucht man nichts anderes mehr. Dann weiß man, dass die Stimme des Guten Hirten für alles völlig ausreicht. Das ist dann auch die Voraussetzung für Nachfolge: Die Schafe kennen seine Stimme, und das reicht völlig aus!

Die jüdischen Schafe hatten kein Recht, aus ihrem Hof hinauszugehen, bevor nicht der Herr Jesus selbst hinausgegangen war. Das ist ein wichtiger Grundsatz aus dem Wort Gottes: Solange der Herr Jesus an einem Ort bleibt, müssen auch wir bleiben. Und Er geht nicht von einem auf den anderen Tag weg von einem Ort. Als Noomi nach zehnjährigem Aufenthalt in Moab zurückkehrte, war Boas immer noch in Bethlehem. Das sollte uns sehr zu denken geben. Wir haben nur dann das Recht, einen Ort zu verlassen, wenn der Herr Jesus darin vorangegangen ist – sonst nicht!

Wenn also jemand in diesem Schafhof war und verstanden hatte, dass das Gesetz von Gott gegeben war, würde ein solcher sich nur von jemandem herausführen lassen, der dazu auch göttlich legitimiert wäre. Deshalb waren diese Schafe auch bereit, sich von dem Herrn Jesus als der einen göttlich legitimierten Person in diesen neuen Bereich hineinführen zu lassen.

Aus diesem Grund ist es auch so wichtig, dass der Hirte vor seinen Schafen hergeht. Sie wussten ja gar nicht, wie es für sie weitergehen sollte, jetzt, wo sie das Judentum verlassen hatten. Sie mussten einfach nur Ihm folgen und dahin gehen, wo sie wussten, dass Er dort wäre. So ging es auch unseren Geschwistern, die in der „Zeit von Philadelphia“ Anfang des 19. Jahrhunderts die kirchlichen Systeme verlassen hatten und sich nur um den Herrn Jesus als alleinigen Mittelpunkt versammelten. Der Herr führte sie Schritt für Schritt weiter, Er ging vor ihnen her und öffnete ihnen das Verständnis über eine Wahrheit nach der anderen. Auf diesem Weg des Gehorsams in der Nachfolge des Herrn wurde auch ihr Weg wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe. Auch wenn es heute darum geht, den richtigen kirchlichen Weg auf der Erde zu finden, geht Er vor seinen Schafen her.

„Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen“ (V. 5).

Warum werden die Schafe des Guten Hirten einem Fremden nicht folgen? Weil er verkehrte oder böse Dinge sagt? Nein, sondern weil sie seine Stimme nicht kennen. Es gibt Beispiele aus der Natur, wo das genau so passiert. Da weiden tagsüber mehrere Schafherden zusammen auf einer Weide, und am Abend kommen die verschiedenen Hirten und jeder hat einen anderen Ruf, einen speziellen Schrei. Und wenn der eine Hirte seinen Ruf hören lässt, kommt nur eine bestimmte Gruppe von Schafen, wo immer sie auch auf der Weide verstreut waren. Alle anderen bleiben stehen. Und wenn ein zweiter Hirte kommt und seinen Ruf hören lässt, kommt eine andere Gruppe von Schafen. Jede einzelne Schafherde kennt die Stimme ihres Hirten, und dieser Stimme folgen sie.

Schafe sind ja dadurch gekennzeichnet, dass sie vollständig abhängig von ihrem Hirten sind. Sie können allein nicht überleben – sie finden keine Nahrung, sie finden keinen Weg und verirren sich. Deshalb wird in diesen Versen auch so deutlich vorgestellt, dass alles von dem Hirten ausgeht. Und von wem könnte man besser abhängig sein als von Ihm, dem Guten Hirten!

Eins können Schafe aber sehr gut: Stimmen unterscheiden. Und das ist eine sehr wichtige Eigenschaft. Wir Glaubende dieser christlichen Haushaltung besitzen den Heiligen Geist, der uns neben unserer Kenntnis des Wortes Gottes eine zusätzliche Hilfsquelle ist, diese vielfältigen Stimmen zu unterscheiden, die auf uns eindringen.

Wie viele fremde Stimmen hören wir heute! Interessant ist, dass wir erst von Dieben und Räubern gehört haben, später kommt noch der Mietling und der Wolf dazu, aber hier geht es um einen Fremden. Was ist ein Fremder? Das einzig Sichere, das man von ihm weiß, ist, dass er unbekannt ist. Wir sollen uns nicht fortreißen lassen von mancherlei und fremden Lehren (s. Heb 13,9). Auch das ist eine ganz unbestimmte Definition. Was ist mancherlei und fremd? Alles Mögliche, nur nicht die Stimme des Guten Hirten. Gottes Wort warnt uns nicht nur vor Irrlehren, auch nicht nur vor falschen Lehren, Gottes Wort warnt uns vor allem, worin wir nicht auf Anhieb die Stimme des Guten Hirten hören! Wenn sich etwas nicht sofort durch Belege aus Gottes Wort empfiehlt, dann lasst uns vorsichtig sein.

Das gilt auch für die Literatur, der wir uns zuwenden. Wenn wir beim Lesen feststellen, dass da nicht die Stimme des Guten Hirten zu uns spricht, dann sollten wir konsequent sein und dieses Schrifttum wegtun. Es zerstört das Bild gesunder Worte, auch wenn es keine falsche Lehre oder Irrlehre ist. Man kann in den Beteiligungen in den Zusammenkünften oft erkennen, ob das Schriftgut, mit dem sich die Brüder zu Hause beschäftigen, gesund ist oder nicht. Es ist heute keine Garantie, dass man in christlichen Verlagen ausschließlich gesunde Literatur bekommt – und schon gar nicht im Internet. Die Stimme des Guten Hirten ist meistens leiser, man muss gut und aufmerksam zuhören; die „mancherlei und fremden“ Stimmen kommen oft mit viel Lautstärke und Getöse daher und wollen so unsere Aufmerksamkeit fesseln. Aber es scheint nur so, als wäre das besser.

Wir müssen nicht jede neue Lehre im Detail als falsch erklären können; wir müssen nur sicher sein, ob wir darin die Stimme des Guten Hirten erkennen oder nicht. Voraussetzung dafür ist eine innige Beziehung zu dem Guten Hirten. Das ist so einfach, dass es uns schon fast zu einfach ist und wir es deshalb nicht anwenden wollen. Wir wollen intellektuell erwägen und überlegen und prüfen. Und wenn 1. Thessalonicher 5,21 sagt, dass wir alles prüfen sollen, bedeutet das nicht, dass wir durch die ganze christliche Welt streifen müssen, um alles zu prüfen und uns zu allem zu äußern. Wir sollen das prüfen, was in unserer Mitte geäußert und vorgebracht wird, das ist die Bedeutung dieser Stelle.

Es ist nicht nur so, dass die Schafe einem Fremden nicht folgen, weil sie seine Stimme nicht kennen, sondern sie fliehen vor ihm. Sie sind bemüht, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diesen Fremden zu bringen, weil sie die Gefahr spüren, die von ihm ausgeht. Aber sie fliehen nicht in die Irre, sondern zu dem Guten Hirten – so nahe wie möglich zu dem Guten Hirten und so viel Abstand wie möglich von dem Fremden.

„Dieses Gleichnis sprach Jesus zu ihnen; sie aber verstanden nicht, was es war, das er zu ihnen redete“ (V. 6).

Der Herr Jesus hatte dieses Gleichnis zu allen Schafen in dem Schafhof geredet. Welche Liebe und welche Langmut zeigt Er darin auch denen gegenüber, die seine Stimme nicht hören wollten. Es war ein schuldhaftes Nicht-Verstehen bei den Juden, sie wollten es nicht verstehen.

Es darf aber auch der Aspekt nicht übersehen werden, dass das, was der Herr hier im Gleichnis vorstellte, im Alten Testament so nicht zu finden war. Wohl war der kommende Hirte angekündigt, der seine Schafe hinausführen würde (s. Hes 34,13), aber nicht aus dem Schafhof, sondern aus den Völkern. Das war ihre jüdische Erwartung. Dass jetzt der angekündigte Hirte kam, um Schafe aus dem jüdischen Hof hinauszuführen, das war etwas Neues für sie. Sie konnten nicht verstehen, dass es nicht um eine religiöse Stätte und ein heiliges Land ging, in dem die Schafe gesammelt werden sollten, sondern um christliche Wahrheiten.