Von Johannes 8 zu Johannes 10

Leben, Licht und Liebe sind drei große Themen des Apostels Johannes. Die Kapitel 3 bis 7 dieses Evangeliums haben im Besonderen das Thema Leben zum Inhalt. In den Kapiteln 8 bis 12, in denen wir uns gerade befinden, geht es besonders um das Thema Licht. Und in den Kapiteln 13 bis 17 wird der Schwerpunkt vor allem auf die Liebe gelegt.

Das Licht offenbart sich in Worten und in Werken. Diese beiden Aspekte werden anschaulich in den Kapiteln 8 und 9 vorgestellt. In Kapitel 8 ist es besonders das Zeugnis des Herrn in seinen Worten; der Schlüsselvers dazu ist Vers 12: „Ich bin das Licht der Welt.“ Aber auch in Kapitel 9 lesen wir von dem Licht, wo es in Vers 5 ganz ähnlich ausgedrückt wird: „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Und doch haben diese beiden Aussagen nicht genau die gleiche Bedeutung. In Johannes 8,12 geht es darum, dass der Herr Jesus als das Licht der Welt alles um sich herum in das Licht Gottes stellt. In Johannes 9,5 wird mehr der Gedanke betont, dass dieses göttliche Licht auch da Veränderungen bewirkt, wo es hinscheint.

In Kapitel 8 geht es um die Worte des Herrn, und im Vergleich zu den Werken ist die Offenbarung im Wort die Größere. Deshalb sagt der Herr in Vers 25 diese bemerkenswerten und tiefen Worte auf die Frage der Juden, wer Er sei: „Durchaus das, was ich auch zu euch rede.“ In Kapitel 9 finden wir dann die Werke des Herrn, und um dieses Thema geht es dann bis zum Ende des 10. Kapitels, wo der Herr Jesus in Vers 37 und 38 noch einmal darauf zurückkommt.

Es ist wunderbar, dass der Herr Jesus das Licht ist, das offenbar macht. Als das Licht macht Er das Herz Gottes offenbar, aber natürlich auch das Herz der Menschen, Er stellt den Menschen in das Licht (s. Joh 1,9). Das haben wir in Kapitel 9 bei dem Blindgeborenen betrachtet, und darüber hinaus konnten wir bei ihm sehen, wie er wachsendes geistliches Verständnis bekommt, fortschreitende Erkenntnis über die Person des Herrn Jesus: In Johannes 9,11 spricht er von dem Herrn als von einem „Menschen, genannt Jesus“, mehr wusste er noch nicht von Ihm. In Johannes 9,17 nennt er Ihn „einen Propheten“. Dann in Johannes 9,33 betont er: „Wenn dieser nicht von Gott wäre, könnte er nichts tun“; er hatte Ihn erkannt als den, der von Gott gekommen war. Und schließlich lernt er Ihn als „den Sohn Gottes“ kennen (s. Joh 9,35–38) und wird zur Anbetung geführt.

Diejenigen, die nicht einsehen wollten, dass sie wirklich blind waren, blieben blind – und ihre Sünde blieb (s. Joh 9,39–41).

Einleitende Gedanken zu Johannes 10

In Kapitel 10 beginnt kein völlig neues Thema, sondern es sind Zusammenhänge zwischen den Kapiteln 9 und 10 zu erkennen. Weil man den Herrn Jesus im Blick auf seine Worte und seine Werke abgelehnt hatte (s. Joh 15,22–24), führt Er etwas Neues ein. Er kommt als der verheißene Messias zu seinem Volk; Er ist der Einzige, der durch diese Tür eingehen konnte. Auch andere hatten es versucht, in diesen Hof einzudringen, aber letztlich waren das nur Diebe und Räuber. Aber Er ist der Hirte der Schafe, der durch die Tür der Schriften eingeht (s. Joh 10,2). Alle alttestamentlichen Voraussagen auf den Herrn haben sich in seiner Person erfüllt.

Und als der Hirte der Schafe kennt Er seine eigenen Schafe und führt sie aus dem jüdischen Schafhof heraus. Als der Blindgeborene in Johannes 9,34 von den Juden aus dem jüdischen System hinausgeworfen wurde, ist gerade das der Anknüpfungspunkt: Dieser Blindgeborene ist eines dieser Schafe, die letztlich von Ihm aus dem jüdischen System herausgeführt werden. Ein Schaf, das auf sich selbst gestellt ist, braucht Orientierung, braucht Führung – und der Herr als der Hirte gibt diese Führung.

Die Schafe haben durch die Salbung mit dem Heiligen Geist (s. 1. Joh 2,20) ein Unterscheidungsvermögen zwischen der Stimme des Fremden und der Stimme des wahren Hirten, und der Stimme des Fremden folgen sie nicht.

Über den Hirten haben wir in diesen Versen drei Aussagen: Er ist der Hirte der Schafe (s. Joh 10,2), der Einzige, der alle Prophezeiungen des Alten Testaments in sich erfüllt hat und der auch vorausgeht, um die Schafe aus dem Hof der Schafe hinauszuführen und ihnen etwas Neues zu geben. Damit kommen wir zu Ihm als dem Guten Hirten, der aus Liebe sein Leben für seine Schafe lässt (s. Joh 10,11.15). Und dann finden wir Ihn in Johannes 10,16 als den einen Hirten, der diese eine Herde hat und sie durch seine Anziehungskraft zusammenhält.

„Jesus sprach nun wiederum zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür der Schafe“ (Joh 10,7).

In den Versen 1 bis 16 haben wir drei Bilder, die sich abwechseln; und wenn wir die Entwicklung der Gedanken des Herrn Jesus recht verstehen wollen, müssen wir das im Auge behalten. In den Versen 1 bis 6 sehen wir den Herrn Jesus als den Hirten; hier wird uns gezeigt, wie Er seine Schafe aus dem jüdischen Schafhof hinausführt. In den Versen 7 bis 9 ist Er die Tür, und ab Vers 10 ist Er wieder der Hirte. Das sind drei Bilder, die nacheinander vor uns kommen; und jedes Bild, das auf das vorhergehende folgt, knüpft an dem Gedanken des vorhergehenden Bildes an. Zuerst ist der Herr der Hirte, der hinausführt. Und wenn Er dann die Tür ist, knüpft Er an diesen Gedanken an, dass es aus dem Judentum hinausgeht. Doch dann wird der Gedanke weitergeführt, es geht auch in einen neuen Bereich, den christlichen Bereich hinein, und auch da ist Er die Tür. Wenn Er dann diesen Gedanken vorgestellt hat, wird Er wieder Hirte derer, die sich in dem neuen, christlichen Bereich aufhalten.

Der Herr beginnt jetzt, das Gleichnis der ersten fünf Verse auszulegen. Dabei erklärt Er zwei bedeutsame Elemente dieses Gleichnisses nach und nach – nämlich die Tür und den Hirten – und erweitert sie mit Bedeutungen, die über die engere Bedeutung des Gleichnisses hinausgehen. Bisher hatte Er nicht davon gesprochen, dass Er dieser Hirte ist; und Er hatte auch nicht gesagt, dass Er diese Tür zum Hinausgehen aus dem verdorbenen Judentum ist. Die Tür in Vers 1 und 2 zeigt, dass Er auf dem von Gott gegebenen Weg zu dem jüdischen Volk gekommen war. Jetzt ist Er ganz allgemein die Tür, der von Gott gegebene Weg, um im Glauben an Ihn den jüdischen Schafhof zu verlassen. Außerdem ist Er auch der von Gott vorgesehene Weg zur Errettung, der von Gott vorgesehene Weg, der uns den Weg in die christliche Freiheit ermöglicht.

Der Herr leitet diese Erklärung mit der bei Johannes speziellen Betonung „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ ein. Damit macht Er deutlich, dass Er jetzt eine ganz besondere Mitteilung an seine Zuhörer richtet. Bei sieben bedeutsamen Gelegenheiten finden wir – jeweils mit charakteristischen Bedeutungszusammenhängen – bei Johannes den alttestamentlichen Titel des HERRN „Ich bin“:

  • „Ich bin das Brot des Lebens“ (s. Joh 6,35.41.48.51)
  • „Ich bin das Licht der Welt“ (s. Joh 8,12; 12,46)
  • „Ich bin die Tür der Schafe“ (s. Joh 10,7.9)
  • „Ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11.14)
  • „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25)
  • „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6)
  • „Ich bin der wahre Weinstock“ (s. Joh 15,1.5)

In 2. Mose 3,14 hatte sich Gott dem Mose als der „Ich bin, der ich bin“ offenbart. Der „Ich bin“ ist Gott selbst. Und wenn der Herr Jesus jetzt zum dritten Mal in diesem Evangelium dieses „Ich bin“ mit einer neuen Beifügung auf sich selbst bezieht, zeigt uns das, wen wir hier vor uns haben. Vor den Juden stand ein Mensch, der so unendlich viel mehr war als ein Mensch, Er war Gott selbst in der ganzen Herrlichkeit und Fülle seines Wesens!

Hier spricht Er jetzt von sich als der Tür, der Tür der Schafe zum Verlassen des jüdischen Schafhofes. Die erste Tür in Vers 2 waren also die Schriften des Alten Testaments, die den Herrn als den rechtmäßigen Hirten auswiesen. Diese zweite Tür hier ist Er selbst. Er allein hatte die Autorität und Befugnis, Schafe aus diesem Hof, den Gott einst eingerichtet hatte, herauszuführen. Außer Ihm gibt es niemanden, der sammeln und hinausführen darf. Jeder, der auf eigenem Weg hinausgeht, geht nicht durch diese Tür.

Das Recht, den jüdischen Schafhof zu verlassen, hatten die Juden erst, nachdem der Herr Jesus selbst hinausgegangen war, denn sie folgten Ihm. In der Anwendung für uns heute bedeutet das, dass wir eine örtliche Versammlung nicht verlassen und hinausgehen können, wenn nicht der Herr Jesus sie vorher verlassen hat. Er hat Geduld, Langmut, gibt Zeit zur Buße – das sehen wir sehr deutlich in den Sendschreiben – und Er geht nicht von heute auf morgen. Es ist gut, wenn wir Ihn wirken lassen und warten, bis Er hinausgeht; dann erst haben wir das Recht und auch die Pflicht, Ihm zu folgen.

Die Schafe sind diejenigen aus dem Judentum, die eine Beziehung zu Ihm haben. Der Blindgeborene ist einer der Ersten, der das Judentum durch diese Tür verlassen hat. Zeitlich gesehen steht der Herr hier zwar noch vor seinem Werk vom Kreuz, aber innerlich stellt Er sich schon mit diesen Worten hinter sein vollbrachtes Werk. Damit Er in Wahrheit diese Tür werden konnte, musste Er sein Leben für die Schafe lassen. Nur auf der Grundlage seines Todes konnte Er diese Tür werden.

„Alle, die vor mir gekommen sind, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe hörten nicht auf sie“ (Joh 10,8).

Diese beiden Verse 7 und 8 haben zwar noch einen gewissen Bezug auf Israel, aber der Herr spricht jetzt nicht mehr davon, dass Er noch Schafe aus dem jüdischen Schafhof hinausführt. Er hat eigentlich schon mit Israel abgeschlossen. Hier handelt es sich nur noch um einen Rückbezug auf das, was Er schon in Vers 1 von den Dieben und Räubern gesagt hatte. Bei der Betrachtung dieser Verse hatten wir gesehen, dass Er damit die jüdischen Führer meinte, die sich mit Gewalt die rechtmäßig dem Herrn zustehende Stellung angeeignet und Ihn hinausgestoßen hatten. Der Dieb versucht, den Schafen äußerlich Schaden zuzufügen, und der Räuber versucht, ihnen mit Gewalt auch körperlich Schaden zuzufügen. In Apostelgeschichte 5,35–39 haben wir in Theudas und Judas dem Galiläer zwei Beispiele für solche Diebe und Räuber aus dem jüdischen Volk.

Doch die Schafe hörten nicht auf die Diebe und Räuber. Erst als in dem Herrn Jesus die Tür des Hofes geöffnet wurde, konnten diese Schafe herausgeführt werden. Wir lesen in der Apostelgeschichte, wie schwer es ihnen oftmals fiel, dieses einst von Gott gegebene System zu verlassen (s. z.B. Apg 21,20). Obwohl gläubig geworden, blieben sie noch lange Zeit Eiferer für das Gesetz. Auch im Hebräerbrief sehen wir, wie Gläubige aus dem Judentum losgelöst werden müssen von dem, was Gott einmal gegeben hatte, um jetzt den Platz außerhalb des Lagers einzunehmen und seine Schmach zu tragen.

„Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich eingeht, so wird er errettet werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden“ (Joh 10,9).

Damit kommt jetzt die dritte Tür vor uns, es ist die Tür zur Errettung. Der Zusatz „Tür der Schafe“ fehlt, es ist ein sehr viel allgemeinerer Ausdruck als in Vers 7. Hier bezieht er sich sowohl auf die Schafe des Alten Testaments als auch später auf die Gläubigen aus der Zeit der christlichen Haushaltung der Gnade. Wer durch diese Tür eingeht, für den werden hier drei Dinge vorgestellt:

  • er wird errettet werden
  • er wird ein- und ausgehen
  • er wird Weide finden

Errettung – christliche Freiheit – Nahrung: Welch ein überwältigender Segen eröffnet sich uns, wenn wir mit dem Herrn Jesus in diesen Bereich eingehen!

Durch den Ausdruck „wenn jemand“ wird schon angedeutet, dass es sich jetzt nicht mehr allein um Schafe aus dem jüdischen Schafhof handelt. Wir sehen darin schon eine Anspielung auf die „anderen Schafe, die nicht aus diesem Hof sind“ (s. Joh 10,16). Es ist eine weltumspannende Einladung für alle Menschen (s. Tit 2,11; Joh 3,16), die sich nach dem vollbrachten Werk vom Kreuz verbreiten konnte. Deshalb war der Herr Jesus auch vor dem vollbrachten Werk in seinem Innern beengt, weil da noch der Fluss der Gnade eingeengt war. Erst nachdem Er ausrufen konnte: „Es ist vollbracht“, konnte sich die Gnade endlich zu allen Menschen ausbreiten (s. Lk 12,50). Der Ausdruck „wenn jemand“ zeigt aber auch, dass dieses Eingehen durch die Tür eine ganz persönliche Angelegenheit ist. Den Herrn Jesus im Glauben anzunehmen muss eine ganz persönliche und bewusste Entscheidung jedes einzelnen Menschen sein.

Es gibt keinen anderen Weg in diesen Bereich des Segens als nur „durch mich“! „Und es ist in keinem anderen das Heil, denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel, der unter den Menschen gegeben ist, in dem wir errettet werden müssen“ (Apg 4,12).

Errettung

Wenn wir uns im Neuen Testament mit dem Thema der Errettung beschäftigen, werden uns verschiedene Gesichtspunkte der Errettung vorgestellt. Zunächst einmal finden wir die Seite der Errettung der Seele (s. 1. Pet 1,9). Diese Errettung besitzen wir schon. Dann wieder haben wir den Gesichtspunkt der Errettung auf unserem täglichen Glaubensweg (s. z.B. 2. Kor 1,10; 2. Tim 4,17) in den Übungen und Umständen des Lebens. Außerdem finden wir manchmal den Gesichtspunkt der Errettung unseres Leibes am Ende unseres Weges, wenn der Herr Jesus kommt und auch unser Leib in diese Errettung mit eingeschlossen ist.

Hier aber ist Errettung ganz umfassend und allgemein zu sehen – die Schafe des Herrn Jesus gehen nicht verloren in Ewigkeit (s. Joh 10,28). Errettung ist ein sehr umfangreicher Segensbereich. Wir sind errettet worden „aus der Gewalt der Finsternis“ (Kol 1,13), „errettet von dem kommenden Zorn“ (1. Thes 1,10; s. Röm 5,9) – es ist in der Tat „eine so große Errettung“ (Heb 2,3)! Und gerade im Johannes-Evangelium wird deutlich, dass Gott diese Errettung für alle Menschen gedacht hat (s. Joh 3,17; 4,42; 8,12).

Christliche Freiheit

Dass das Ein- und Ausgehen ein stehender Ausdruck für Freiheit ist, macht eine Stelle aus Jeremia 37,4 deutlich, wo von Jeremia gesagt wird, dass er ein- und ausging inmitten des Volkes, weil man ihn noch nicht ins Gefängnis gesetzt hatte. Auch bei dem Apostel Paulus finden wir diesen Ausdruck, und interessanterweise gerade genau diese drei Punkte aus unserem Vers 9: In seiner dort geschilderten Bekehrungsgeschichte sehen wir, wie er durch die Tür eingegangen ist und die Errettung erlebt hat. Doch als er dann nach Jerusalem kam, gab es noch gewisse Vorbehalte und Bedenken bei den Brüdern dort, und er musste durch Barnabas bei ihnen eingeführt werden. Erst danach konnte er in Jerusalem ein- und ausgehen und freimütig im Namen des Herrn reden. Er verkündigte das Wort, was hier durch die Nahrung für die Schafe angedeutet wird (s. Apg 9,26–28).

Christliche Freiheit bedeutet, frei zu sein, um einzugehen in die Gegenwart Gottes, um Gemeinschaft zu haben mit Gott. Aber auch die Freiheit, um auszugehen und von dem weiterzugeben, was uns in dem Herrn Jesus geschenkt ist und ein Zeugnis in dieser Welt zu sein. Als eine heilige Priesterschaft gehen wir ein in die Gegenwart Gottes, um geistliche Schlachtopfer darzubringen; und als eine königliche Priesterschaft gehen wir aus, um die Tugenden dessen zu verkündigen, der uns berufen hat aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht (s. 1. Pet 2,5.9).

Dabei ist es wichtig, dass wir auch die Reihenfolge hier beachten. Das Eingehen geht dem Ausgehen voraus. Der Herr Jesus wartet zuerst auf die Anbetung unserer Herzen, Er möchte Gemeinschaft mit uns haben, Er muss den ersten Platz haben. Denn wir können in dieser Welt nur etwas verkündigen, was wir zuvor in der Gemeinschaft mit Ihm empfangen haben. Wir können in unserem Leben nur etwas darstellen, was wir bei dem Herrn Jesus zuvor gesehen haben. So hat der Herr Jesus es selbst gezeigt, als Er seine Jünger berief: „Er bestellte zwölf, damit sie bei ihm seien und damit er sie aussende zu predigen“ (Mk 3,14).

Nahrung

Der gute Hirte führt seine Schafe auf die Weide, um ihnen Nahrung, Erfrischung und Kräftigung zu geben. Nachdem wir eingegangen sind, um Anbetung darzubringen, und nachdem wir ausgegangen sind, um Dienste der Verkündigung zu tun, schenkt der Hirte uns die nötige Ruhe und Weide (s. Spr 11,25). Wo tut Er das? In Hesekiel 34,13 lesen wir, dass Er das „auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Wohnplätzen des Landes“ tun wird. Während einer Konferenz-Betrachtung oder ähnlichen Gelegenheiten fühlen wir uns wie auf einem dieser „Berge Israels“, dem Alltag etwas enthoben, um eine besondere Weide zu genießen. Aber Er tut das auch in den Tälern, im grauen Alltag und in Übungen; auch da übernimmt der Hirte das Weiden. Und Er tut das auch an allen Wohnplätzen des Landes, gerade da, wo jeder Einzelne von uns persönlich seinen Aufenthalt hat.

Der wichtigste Ort, wo der Herr Jesus seinen Schafen Weide oder Nahrung gibt, ist allerdings der Ort, wo Er selbst der Mittelpunkt ist (s. Mt 18,20). Wir dürfen die Wortverkündigung in der Gegenwart der Herrn und unter der Leitung des Heiligen Geistes nie geringschätzen! Alles andere kommt zusätzlich. Wir müssen mehr dafür beten, dass in den Zusammenkünften als Versammlung das Wort in der Kraft des Heiligen Geistes verkündigt wird, dass keine Menschenworte einfließen, dass keine unklare Lehre verkündigt wird. Wir müssen den Geschwistern den Platz zu den Füßen des Herrn immer kostbarer machen. Aber wir wollen das Aufnehmen der Nahrung natürlich nicht darauf begrenzen.

Als ein guter Hirte lässt Er zu seinen Füßen lagern, und ein jeder empfängt von seinen Worten (s. 5. Mo 33,3). Und in Johannes 6, wo der Herr diese große Volksmenge gespeist hat, sehen wir, dass sogar noch übrig blieb von dem, was Er hatte austeilen lassen (s. Joh 6,13). Der Herr Jesus gibt, und Er ist auch selbst die Nahrung für die Seinen.

Es gibt im Alten Testament drei verschiedene Bilder, die uns den Herrn Jesus als unsere Nahrung vorstellen. In dem Passah haben wir ein Bild von dem gestorbenen Christus; von Ihm müssen wir uns nähren, sein Fleisch essen und sein Blut trinken, um ewiges Leben zu bekommen, „denn mein Fleisch ist wahrhaftig Speise, und mein Blut ist wahrhaftig Trank“ (s. Joh 6,54.55). Wir müssen uns immer wieder von dem gestorbenen Christus nähren. Für die anschließende Reise durch die Wüste hatte Gott seinem Volk das Manna gegeben; und auch in Johannes 6 spricht der Herr Jesus von sich als dem Brot aus dem Himmel. Darin sehen wir ein Bild des auf der Erde lebenden Christus. Wir brauchen den Herrn Jesus aus den Evangelien als unsere tägliche Nahrung. In seinem Leben als der erniedrigte Mensch ist Er das Vorbild für uns. Nach dem Durchzug durch den Jordan hörte für Israel das Manna auf und sie aßen von dem Erzeugnis des Landes, geröstete Körner. Dabei denken wir an den verherrlichten Herrn; auch der verherrlichte Mensch im Himmel zur Rechten Gottes ist unsere Nahrung.

„Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben. Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Überfluss haben“ (Joh 10,10).

Es gibt auch andere, die ganz entgegengesetzte Absichten im Blick auf die Schafe haben. Der Herr spricht jetzt nicht mehr nur von Dieben und Räubern wie in Vers 8, sondern Er macht hier einen deutlichen Kontrast zu sich selbst: Der Dieb verhält sich völlig anders als der Herr Jesus. Der Dieb kommt und tut ein zerstörerisches Werk, der Hirte kommt und tut genau das Gegenteil. Der Dieb kommt erstens, um zu stehlen. Er nimmt etwas weg, was ihm nicht gehört. Der Hirte kommt, nicht um etwas zu nehmen, sondern um etwas zu geben. Dann wird von dem Dieb gesagt, dass er kommt, um zu schlachten. Er kommt, um Leben zu nehmen. Der Hirte kommt, um Leben zu geben, und zwar im Überfluss. Drittens kommt der Dieb, um zu verderben. Der Dieb richtet zugrunde, der Hirte tut genau das Gegenteil: Er kommt, um aufzubauen.

Wer ist dieser Dieb? Letztlich ist er jemand, der das Werk des Teufels tut. Dieser Widersacher benutzte damals und benutzt heute solche, die den Interessen und Zielen des Herrn Jesus entgegenwirken. Er möchte nicht, dass die Schafe des Hirten auf dieser Weide die Speise Gottes genießen. Er möchte uns die Freude und den Genuss an den himmlischen Segnungen nehmen. Er möchte uns die Sicherheit unserer Errettung rauben. Er möchte das Herz der Gläubigen stehlen, wie es Absalom tat (s. 2. Sam 15,6), damit es nicht mehr für den wahren Herrn schlägt. Er möchte alle ins Verderben ziehen und moralisches Verderben in das Leben der Gläubigen bringen.

Der Herr Jesus hingegen ist gekommen, um einen gewaltigen Segen zu bringen. Jetzt kommt wieder eine typisch christliche Segnung vor uns, die im Alten Testament nicht bekannt war. Es ist ewiges Leben, eine wunderbare Gabe, die nur der Herr Jesus geben kann. Das ewige Leben ist eine Person, der Herr Jesus selbst (s. 1. Joh 5,11.12.20). Er ist unser Leben (s. Kol 3,4); wir besitzen es heute schon, aber nicht losgelöst von der Quelle.
Der Herr benutzt in diesen Versen das Mittel der Kontrastierung. Dadurch wird besonders deutlich, wie vortrefflich Er in seinem Handeln als der gute Hirte ist. Er nimmt nichts weg, Er gibt – und zwar gibt Er Leben „in Überfluss“. Die Gläubigen des Alten Testaments hatten auch Leben, aber sie besaßen nicht dieses Leben in Überfluss. Dieses Leben in Überfluss verbindet uns mit der anderen Seite des Todes, mit dem Leben des Herrn Jesus in Auferstehung. In der Kraft der Auferstehung des Herrn Jesus sollen seine Schafe Leben besitzen und genießen. Notwendige Voraussetzung dafür, dass seine Schafe Leben in Überfluss bekommen können, ist sein Auffahren nach vollbrachtem Werk zu „meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17) und das Herabsenden des Heiligen Geistes. Dieses neue Leben befähigt uns, die Dinge wertzuschätzen und zu genießen, die die Sphäre des Vaters ausmachen. Der Herr selbst ist dieses Leben, in dessen Kraft wir die Gemeinschaft mit dem Vater genießen können (Joh 14,6).

Niemand von uns Menschen könnte von sich sagen, dass er gekommen ist, weil das bedeuten würde, dass wir schon vorher existiert hätten. Aber wir haben hier den ewigen Sohn vor uns, der schon vorher da war, bevor Er gekommen ist. Und Er ist mit diesem ganz besonderen Ziel gekommen: Wir sollten Leben haben. Der große Gedanke seines Kommens ist, dass Menschen Leben bekommen sollten. Und der Charakter dieses Lebens ist Leben in Überfluss, ewiges Leben, Leben aus Gott. Dieses ewige Leben schließt ein, dass wir Gemeinschaft haben können mit dem Vater und dem Sohn (s. Joh 17,3). Wir wollen nie vergessen, dass es sein Tod war, durch den Er uns dieses Leben gebracht hat!

„In Überfluss“ deutet wohl darauf hin, dass dieses Leben jenseits der Macht des Todes ist. In Johannes 20,22 hatte der Herr Jesus in die zehn Jünger gehaucht und zu ihnen gesagt: „Empfangt den Heiligen Geist!“ Als Gott im Garten Eden in den Menschen hauchte, wurde der Mensch dadurch zu einer lebendigen Seele (s. 1. Mo 2,7). Er hatte den Odem des Lebens in die Nase des Menschen gehaucht. Ist das nicht ein Bild von dem, was der Herr an seinem Auferstehungstag mit seinen Jüngern tat? Es war der Zeitpunkt, an dem Er erwiesen hatte, dass dieses Leben vollkommen erhaben ist über den Tod. In diesem Augenblick, wo die Frage der Sünde und des Todes abschließend geklärt worden war und der Herr Jesus als Auferstandener erschien, hauchte Er dieses Auferstehungsleben in der Kraft des Heiligen Geistes in sie – Leben in Überfluss!

„Ich bin der gute Hirte; der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“ (Joh 10,11).

Ohne dass der Herr es hier ausdrücklich sagt, liegt hier der Kontrast zwischen dem guten Hirten und dem Mietling in der Liebe des guten Hirten zu seinen Schafen im Gegensatz zu dem geschäftsmäßigen Umgang des Mietlings mit den Schafen. Der Herr bezeichnet sich hier als den guten Hirten. Dieses Attribut zeigt etwas von seinen sittlichen Vortrefflichkeiten und seiner moralischen Größe im Vergleich zu dem Mietling. Er ist nicht nur ein Hirte, Er ist nicht nur der Hirte, sondern Er ist der gute Hirte. Damit steht Er absolut da, neben Ihm gibt es niemand, der dem entspricht, was Er hier selbst von sich als dem guten Hirten sagt. Dieses Attribut zeigt also seinen Charakter, die Vortrefflichkeit seiner Person.

Dann spricht Er noch von der Vortrefflichkeit dessen, was Er als der gute Hirte tut: Er lässt sein Leben für die Schafe. Er setzt sein Leben ein, Er legt es dar für die Schafe. Dass der Beweggrund dafür seine Liebe war, sagt der gleiche Schreiber in seinem ersten Brief: „Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass er für uns sein Leben hingegeben hat“ (1. Joh 3,16). Dort benutzt er dasselbe Wort wie hier in Vers 11. Ja, „Christus hat uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben“ (s. Eph 5,2).

Dass der Herr sein Leben lässt, ist nicht irgendwie etwas Passives, wie es in unserem Sprachgebrauch häufig verstanden wird, als würde jemand sein Leben verloren haben. Das, was der Herr hier von sich selbst sagt, ist absolut aktiv, Er tut das selbst in eigener Initiative (vgl. Joh 10,15.17.18). Wir finden diese Tatsache drei Mal in diesen Versen erwähnt, und es scheint, als offenbart der Herr einen ständig zunehmenden Aspekt dieser wunderbaren Tatsache. Zunächst sagt Er hier in Vers 11, dass das Einsetzen seines Lebens ein charakteristisches Kennzeichen des guten Hirten ist; in Vers 15 sagt Er ausdrücklich, dass Er dieser gute Hirte ist, der sein Leben für die Schafe lässt; und in Vers 17 macht Er deutlich, dass gerade das ein neuer Anlass für den Vater ist, Ihn deshalb zu lieben. Wir können auch aus dem Zusammenhang dieser Verse sehen, dass beim ersten Mal der Gesichtspunkt auf dem einzelnen Schaf liegt, das durch Ihn als die Tür eingeht. Beim zweiten Mal haben wir den Gesichtspunkt der einen Herde vor uns, die durch das Einsetzen seines Lebens gebildet werden würde. Und beim dritten Mal geht es darum, dem Vater einen neuen Grund zu geben, Ihn zu lieben.

Eben haben wir daran gedacht, dass der Herr Jesus selbst das ewige Leben ist; hier hören wir, dass Er sein Leben für die Schafe lässt. Wir müssen dabei unterscheiden, dass Er nicht dieses ewige Leben gelassen hat, sondern sein natürliches Leben, das Er als Mensch auf der Erde angenommen hat. Doch das konnte Er nur tun, weil Er Gott ist. Wir kommen hier an Höhepunkte, die wir mit dem Verstand nicht erklären können: Der Herr Jesus ist Gott, und Er ist Mensch – und dieses menschliche Leben hat Er zugunsten seiner Schafe abgelegt.

Petrus hatte einmal in völliger Fehleinschätzung von sich selbst gesagt, dass er auch sein Leben für den Herrn Jesus lassen wollte (s. Joh 13,37). Doch außer dem Herrn Jesus kann niemand sein Leben für andere lassen. Wir bewundern diese Liebe, die den Herrn Jesus angetrieben hat, für andere – nicht für sich, sondern für andere – sein Leben in den Tod zu geben. Es ist der maximale Beweis von Liebe, sein Leben für andere hinzugeben (s. Joh 15,13).

„Der Mietling aber und der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht; und der Wolf raubt sie und zerstreut die Schafe. Der Mietling aber flieht, weil er ein Mietling ist und sich nicht um die Schafe kümmert“ (Joh 20,12.13).

Ein Mietling steht unter einer vertraglichen Verpflichtung, er ist nicht Hirte der Schafe, sondern er ist bestrebt, mit minimalem Einsatz seiner Verpflichtung nachzukommen. Ihm gehören die Schafe nicht und deswegen fehlt es ihm grundsätzlich an Interesse an den Schafen. Ihn interessiert nur der Lohn, für den er arbeitet, das Wohl der Schafe kümmert ihn nicht. Wenn der Wolf kommt, flieht er und überlässt die Schafe dem Verderben durch den Wolf.

Der Mietling wird hier durch mehrere Eigenschaften charakterisiert. Zunächst einmal ist er kein Hirte, d. h., ihm fehlt das Hirten-Herz. Wer für Lohn arbeitet, hat kein Herz für die Schafe. Außerdem gehören die Schafe dem Mietling auch nicht. Deshalb hat er auch kein Verantwortungsbewusstsein für sie und keinerlei Beziehung zu ihnen. Als Nächstes lesen wir, dass er den Wolf kommen sieht. Er ist also nicht blind für die Gefahr, aber er zieht seine eigenen egoistischen Schlussfolgerungen daraus. Dann verlässt er die Schafe, lässt sie im Stich, kümmert sich nicht mehr um sie. Sein eigener Vorteil ist ihm wichtiger als die Situation der Schafe. An den Schafen liegt ihm nichts. Das genaue Gegenteil dieser Charakterzüge finden wir in dem Herrn Jesus, dem guten Hirten der Schafe! Wie groß wird Er uns, wenn wir täglich in den Gefahren, die uns umgeben, erleben dürfen, dass Er seine Schafe nicht verlässt.

Der Mietling dient um des Lohnes willen, er möchte Gewinn für sich daraus machen. Diese Gefahr, im Hirtendienst geldliebend zu sein, besteht bis heute, sonst hätten wir wohl diese Warnung von Petrus nicht nötig (s. 1. Pet 5,2). Wir können bei diesem Mietling als eine Anwendung für uns falsche Prinzipien im Dienst erkennen. Sein Prinzip ist sein eigenes Interesse, er hat sein persönliches Wohlergehen im Auge. Und das Ergebnis dessen ist Schaden für die Schafe. Auch arbeitet er nur für eine Zeit, die Fürsorge und Liebe des guten Hirten für seine Schafe ist dagegen ununterbrochen und ewig.

Wie muss es den Herrn getroffen haben, dass seine Jünger Ihm einmal diese Frage fast vorwurfsvoll gestellt hatten: „Liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“ (Mk 4,38). Auch Martha hatte Ihn gefragt: „Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein gelassen hat zu dienen?“ (Lk 10,40). Der Feind möchte solche Zweifel in unseren Herzen wecken. Petrus hatte seine Lektion gelernt, er schreibt in seinem ersten Brief davon, dass wir alle unsere Sorge auf Ihn werfen sollen, weil Ihm an uns liegt (s. 1. Pet 5,7).

Der Wolf raubt und zerstreut die Schafe; er will zum einen die Schafe von dem Hirten trennen, und zum anderen will er die Schafe voneinander trennen. Das sind die beiden Wirkungsrichtungen, auf denen der Feind bis heute versucht, Schaden und Verderben in der Herde anzurichten. Der Wolf zerstreut die Schafe – und der Herr Jesus sammelt sie. Was für ein Gegensatz. In 2. Thessalonicher 2,1 lesen wir von dem größten Versammeltwerden was es je gegeben hat und geben wird. Der Feind wird nicht der Sieger sein; der Herr Jesus wird diese Versammlung, die hier in ihrem ewigen Aspekt gesehen wird, versammeln zu sich hin. Und das gründet sich auf seinen Opfertod am Kreuz. Anbetung dieser herrlichen Person!

Im Blick auf den Wolf haben wir diese Warnung des Apostels Paulus an die Ältesten von Ephesus, dass reißende Wölfe zu ihnen hineinkommen würden, die die Herde nicht verschonen (s. Apg 20,29). Angesichts dieser Gefahren durch Dieb, Mietling und Wolf wollen wir uns eng bei dem guten Hirten aufhalten, der sich vor die Schafe stellt und sie schützt und in allem für sie sorgt.

Wir haben hier also drei Bilder vor uns, in denen jemand im Kontrast zu dem guten Hirten der Herde schaden will. Die Aktivität dieser Personen finden wir zu unserer Warnung auch noch an anderen Stellen des Wortes Gottes. Ein Kennzeichen des Diebes ist, dass er nicht durch die Tür, sondern woanders in den Hof der Schafe eindringt, er kommt heimlich und auf einem Nebenweg. Dieses Kennzeichen finden wir auch in Judas 4, wo davon gesprochen wird, dass sich gewisse Menschen nebeneingeschlichen haben. Petrus spricht von solchen, „die Verderben bringende Sekten nebeneinführen werden“ (2. Pet 2,1). Diese Gefahr besteht bis heute.