Nachdem Josua den Vorstehern des Volkes geboten hatte, gab er als nächsten den Rubenitern, den Gaditern und dem halben Stamm Manasse – den zweieinhalb Stämmen, die ihr Erbteil auf der Wüstenseite des Jordan empfangen hatten – spezielle Anweisungen. Die Botschaft unterschied sich von der an die Vorsteher des Volkes, und es gibt tatsächlich in vielerlei Hinsicht offensichtliche Unterschiede zwischen den zweieinhalb und den neuneinhalb Stämmen Israels.
Ein höchst interessantes Thema kommt hier vor uns, das nicht nur die Geschichte Israels betrifft, wie sie in diesem Buch geschildert wird, sondern auch uns selbst, denn „alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf die das Ende der Zeitalter gekommen ist“ (1. Kor 10,11).
Um zu einem rechten Urteil über eine moralische oder geistliche Bewegung zu kommen, ist es notwendig, zu den Anfängen zurück zu gehen. Einen Einblick in die ersten Prinzipien, die die zweieinhalb Stämme veranlassten, ihr Erbteil auf der Ostseite des Jordans zu suchen, verschafft uns 4. Mose 32. Dort lesen wir von diesen Stämmen: „Sie sahen das Land Jaser und das Land Gilead, und siehe, der Ort war ein Ort für Vieh“ (Vers 1). „Und sie sprachen: Wenn wir Gnade in deinen Augen gefunden haben, so möge dieses Land deinen Knechten zum Eigentum gegeben werden; lass uns nicht über den Jordan ziehen!“ (Vers 5). Mit anderen Worten wollten sie nicht in das Erbteil eintreten, auf das das Angesicht Israels gerichtet war und wonach sich die Hoffnungen der Nation ausstreckten, sondern entschieden sich in den reichen Feldern Moabs zu bleiben.
Auf der Ostseite des Flusses zu bleiben und dort Städte zu bauen, bedeutete hinter dem göttlichen Ratschluss, Israel zu segnen, zurückzubleiben, und ihre Worte: „Wir wollen nicht mit ihnen erben jenseits des Jordan und weiterhin, denn unser Erbteil ist uns diesseits des Jordan gegen Sonnenaufgang zugekommen“ (Vers 19), offenbaren die Entscheidung, nicht in dem rechtmäßigen Erbteil Israels zu wohnen zu wollen, und zeigen einen Geist der Trennung von denen, die den Worten der Verheißungen treu sein wollten. Der Entschluss dieser zweieinhalb Stämme rief Empörung bei Mose hervor, denn dieser Entschluss reizte nicht nur den Herrn zum Zorn gegen ganz Israel, sondern die Vorstellung, die zweieinhalb Stämme würden es sich in dem Genuss dessen, was bereits gewonnen war, bequem machen, genügte, den Rest des Volkes zu entmutigen in ihrem Vorsatz, voranzugehen und das zu erobern, was der Herr ihnen als das Erbteil für alle verheißen hatte. Er verglich ihr Verlangen mit der Sünde der Kundschafter in Eskol und sah darin ein Angeld auf jene bitteren Früchte, die sie entsprechend der Warnung Gottes ernten würden, wenn sie das verheißene Land verschmähten. Betrübt über einen solchen Geist, sagte er: „Ihr wollt hier bleiben? Und warum wollt ihr das Herz der Kinder Israel davon abwendig machen, in das Land hinüber zu ziehen, das der Herr ihnen gegeben hat?“ Da traten sie zu ihm und sagten, dass sie ihre Frauen und Kinder und ihr Vieh zurücklassen und selbst in den Krieg ziehen wollten.
Zweckmäßigkeit argumentiert plausibel und findet viele Wege, ihr Ziel zu erreichen. Doch es ist eine armselige Sache, zwar die Kämpfe Gottes zu kämpfen, aber nicht allein für Ihn. Denn wo der Schatz ist, da wird auch das Herz sein. Möchten solche, die nicht „jenseits des Jordan und weiterhin“ erben wollen, die den Kampf des Glaubens nicht mit ganzem Herzen kämpfen, erkennen, was es bedeutet „hier zu bleiben“.
Träge Gläubige sind eine ernste Prüfung der Hingabe anderer. Wir bewirken damit nicht nur Unehre für Gott und Unrecht bei uns selbst, sondern wir berauben damit auch andere ihres Eifers. Einem falschen Schritt folgt gewöhnlich ein zweiter – Böses führt zu Bösem. Diese Stämme begannen mit einem Geist der Zweckmäßigkeit, dann fügten sie der Zweckmäßigkeit Ungehorsam hinzu und schließlich dem Ungehorsam Spaltung – „wir wollen nicht mit ihnen erben.“ Um ihre Zwecke zu verfolgen, waren sie bereit in Israel einen Bruch zu machen. „Wir“ und „sie“ sagten sie von der ungeteilten Familie des Herrn. Der Herr hatte seinem Volk ein Erbteil gegeben, sie jedoch wollten ihr Erbteil haben, und Israel sollte seins bekommen! – „Wir wollen nicht zu unseren Häusern zurückkehren, bis die Kinder Israel ein jeder sein Erbteil empfangen haben.“ Mose akzeptierte den Kompromiss, dass die bewaffneten Männer dieser zweieinhalb Stämme die Vorhut bilden und Israel helfen sollten, „an ihren Ort“ zu kommen; doch es blieb dabei, dass sie nichts „jenseits des Jordan“ besaßen.
Gott gestattete ihnen, ihre Wünsche auszuführen, wie Er Seinem Volk sooft gestattet, für eine Zeit ihre eigenen Wege zu gehen; doch früher oder später wird jeder das ernten, was er gesät hat. So warnte auch Mose die zweieinhalb Stämme bei diesem Entschluss: „Wisst, dass eure Sünde euch finden wird.“
In Verbindung mit dem Versagen des Volkes als Ganzem, das Land in Besitz zu nehmen, ist es nützlich, den Anfang der göttlichen Verheißungen an Israel anzuschauen, die Er ihnen in Bezug auf ihr Erbteil gegeben hat.
Der Herr errichtete einen Bund mit Abraham und gab seine Nachkommen das Land Kanaan und die umliegenden Gebiete vom Nil bis zum Euphrat (1. Mose 25,18). Dieses ganze Land wurde Abrahams Nachkommen ohne Bedingung übereignet. Das ist göttlicher Ratschluss, und wenn der göttliche Ratschluss des Gebens vor uns steht, müssen wir menschliche Verantwortung im Empfangen ausblenden. Es ist von allen Gläubigen unserer Tage wahr, dass der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus, wie er uns auserwählt hat in Ihm. Alle diese Segnungen sind der Besitz aller Gläubigen durch den Ratschluss und Willen Gottes. Menschliche Verantwortung hat nicht im Entferntesten etwas damit zu tun, denn alle diese herrlichen Dinge gehören uns in Christus, und wir sind nicht gemäß unseres Verhaltens auf der Erde gesegnet, sondern „wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt“ (Epheser 1,4). Das ist die Grundlage für das Wesen und das unermessliche Ausmaß unserer Segnungen in Christus.
Doch die unveränderliche Gunst Gottes ändert nichts an unserer Verantwortlichkeit. Als aus dem Samen Abrahams eine Nation wurde, wandte sich der Herr an diese Nation bezüglich seiner Verheißungen an Abraham, und legte seinem Volk die Verantwortlichkeit vor indem er sagte: „Wenn du fleißig auf seine Stimme [die des Engels, den er senden würde] hörst und alles tust, was ich sagen werde, so werde ich deine Feinde befeinden und deine Dränger bedrängen.“ (Lies 2. Mo 23,20–33). Das Gelingen Israels war also an Bedingungen geknüpft – es war abhängig von ihrem Gehorsam. Der verheißene Besitz gehörte durch göttliche Souveränität ihnen; und so ist es auch bei dem Christen.
Etwa 40 Jahre später, als Israel im Begriff stand, den verheißenen Besitz einzunehmen, stellte der Herr Israel erneut den Gehorsam gegenüber dem Wort als Bedingung für den Sieg vor (5. Mose 21,22–23); wobei Er der Notwendigkeit zu gehorchen außerdem die Notwendigkeit der praktischen Inbesitznahme hinzufügte (Vers 24–25). Und so ist es auch bei dem Gläubigen heute; Gehorsam gegenüber dem Wort und glaubensvoller Eingang in die geistlichen Segnungen sind für eine erfahrungsmäßige Inbesitznahme notwendig. Die Souveränität Gottes, sein Volk zu segnen, und deren Verantwortung seinem Wort zu gehorchen, widersprechen sich nicht. Gott hat durch Gnade in Christus seinem ganzen Volk jede geistliche Segnung zugesichert; und dennoch erntet jeder das, was er gesät hat. Die zweieinhalb Stämme sind ein Beweis der Wahrheit dieser Tatsache. Sie waren entschlossen, dem Land fern zu bleiben, das eingenommen werden sollte, und sie waren die ersten, die in die Gefangenschaft gehen mussten.
In dem Teil der Geschichte Israels, der jetzt im Buch Josua vor uns steht, befinden wir uns im Lager Israels, vor dem Überqueren des Jordan. Wir kehren der Wüste und dem Süden den Rücken zu, unsere Blicke sind auf den Libanon und den Norden gerichtet, das Land erstreckt sich vom Jordan bis zum Mittelmeer auf der linken Seite, und der Euphrat bildet die östliche Grenze auf der rechten Seite. Das ganze Ausmaß gehört Israel durch Verheißung, doch das Land, das ihnen besonders gegeben war, und um dessentwillen sie Ägypten verlassen hatten, war „jenseits des Jordan“, und die Nationen, die vertrieben werden sollten, waren westlich des Flusses, nicht östlich, wo die zweieinhalb Stämme ihr Teil ausgewählt hatten.
Um zu besitzen, musste Israel zuerst vertreiben; und so ist es auch bei dem Christen, der für sich selbst nichts bekommt, was er nicht durch das Austreiben von Feinden gewinnt.
Unmöglich kann man in der Aufforderung an diese zweieinhalb Stämme überhören, dass ihr Führer Menschen anspricht, die zwar von Israel waren, aber doch Interessen und Ziele hatten, die sich von denen der Nation als solcher unterschieden. Als Josua zu ihnen spricht, scheint sein Gesicht eher in Richtung der Berge Gileads gerichtet zu sein, als zum Libanon, er scheint mehr gegen Sonnenaufgang zu schauen als gegen Sonnenuntergang. Er spricht zwar „alle streitbaren Männer“ aus ihren Stämmen an, das ist wahr, doch auf diesen Aufruf reagiert nur ungefähr ein Drittel dieser Kämpfer.
Zwei unterschiedliche Standpunkte werden also hier vorgestellt: der Standpunkt Josuas, oder vielmehr des Herrn und der Standpunkt der zweieinhalb Stämme. Kanaan, das Land der Hethiter, war für Josua die Heimatseite des Jordan, das Land Gilead war die Heimatseite der zweieinhalb Stämme. Unsere Vorstellungen von geistlichen Dingen richten sich nach dem Standpunkt, den wir einnehmen. Lasst uns darauf achten, dass wir unser Christentum von dem göttlichen Standpunkt aus lernen – jenseits des Todes, auferweckt mit Christus. Möge das wirklich unsere Heimatseite des Flusses sein.
Wir können sagen, dass Gilead ihre Heimat war, und ein Christ ist in seinem Leben das, was er zuhause ist. Er mag von Zeit zu Zeit auf den Kriegspfad gehen, aber der wahre Prüfstein seines geistlichen Zustands ist der Charakter seines inneren Lebens. Die ganze Zeit ihrer Kämpfe in Kanaan über, kämpften diese 40.000 für andere, nicht für sich selbst; und es ist eine ernste Sache wenn Christen in ihrer geistlichen Kriegführung gleichsam nur Hilfstruppen sind. Echte christliche Kämpfer sind zunehmend selten; sie sind Kämpfer auf Lebenszeit. Sie ordnen alles dem einen großen Ziel unter – dem zu gefallen, der uns als Kämpfer angeworben hat. „Eure Frauen, eure Kinder und euer Vieh“ auf der Ostseite des Flusses, waren die wahren Zeugen des tatsächlichen Wohnorts der 40.000. Früher oder später würden diese Kämpfer nach Hause zurückkehren, und nicht einer von ihnen war ein Kämpfer auf Lebenszeit jenseits des Jordans. Die Kämpfe des Herrn prüfen den Menschen. Jeder in Gottes Volk muss geistlich kämpfen; aber, wie die 40.000, kämpfen viele den Kampf des Glaubens mit der Aussicht, bald zu der Bequemlichkeit und den Genüssen hier zurückzukehren. Zu wenige kämpfen weiter mit dem Ziel, Siege für Gott auf der Erde zu erringen, und nicht daran zu denken, nicht davon zu träumen, zu ruhen, bis sie ihre Heimat in der Herrlichkeit erreicht haben.
Natürlich ist die Hilfe jedes Gläubigen und jedes Wort der Ermunterung willkommen, aber würden doch alle Gläubigen den Charakter eines wahren christlichen Kämpfers kennen!
Manche meinen, dass die mutige Antwort, von der in den Versen 16 und 18 berichtet wird, die Antwort von ganz Israel durch ihre Obersten an den Führer seien; dass „und sie“ nicht nur die 40.000 der zweieinhalb Stämme meint, sondern das ganze Volk, das zusammen mit den 40.000 auf die Worte Josuas antwortete. Wenn das der Fall ist, ist das die herrliche, starke Antwort des Glaubens, die Antwort einer Nation, die angespornt wurde, in den Kämpfen des Herrn voranzugehen. Israel war die Armee Gottes, die dazu bestimmt war, Jericho zu zerstören, Israel kam nach Kanaan, um dessen sündige Einwohner von der Fläche des Erdbodens zu vertilgen, und dieses Werk des Gerichts in der Stärke des Herrn auszuführen. Ihr Glaube war die Antwort auf die Aufforderung ihres Gottes und ihre Worte ein Echo jener großen Worte: „Nur sei stark und mutig.“