Wenn man die Bilder des Alten Testaments deuten will, ist es gut, sich die Ursprungsbedeutung anzuschauen. Bevor man die sekundäre Ebene der Aussetzung betritt, sollte man die primäre Ebene des historischen Kontextes beachten.

Nehmen wir mal die Beschreibung des Bräutigams durch die Braut im Hohelied. In der Braut können wir das Bild eines Gläubigen sehen und in dem Bräutigam den Herrn Jesus.

Wenn die Braut sagt, dass der Bräutigam weiß und rot sei (Hld 5,10), marschieren die Ausleger gerne ansatzlos zur Deutung des Vorbildes und sagen: „Christus war der Reine und Heilige (= weiß). Und weil er das war, konnte er auch sein Leben am Kreuz hingeben (= rot).“ Das ist an sich eine wahre und schöne Aussage.

Aber die Frage muss doch erlaubt sein, ob das wirklich die Bedeutung ist, die der Geist Gottes mit dieser Aussage verbinden will. Wir kennen ja den Grundsatz, dass die Schrift sich durch die Schrift auslegt. Und es gibt eine bemerkenswerte Stelle in den Klageliedern, die uns hilft, „weiß und rot“ in seiner ursprünglichen Bedeutung zu verstehen: „Ihre Fürsten waren reiner als Schnee, weißer als Milch; röter waren sie am Leib als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt. Dunkler als Schwärze ist ihr Aussehen, man erkennt sie nicht auf den Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Gebein, ist dürr geworden wie Holz“ (Klgl 4,7.8; vgl. auch Hld 1,5). Die Begriffe „weiß und rot“ sprechen also von dem gesunden und vitalen Aussehen eines Menschen; der Gedanke an Blut ist bei der Farbe Rot hier nicht direkt gemeint. Wenn wir das jetzt auf den Herrn Jesus anwenden, so können wir sagen, dass seine geistliche Kraft und Frische nicht durch die Sünde und ihre Folgen getrübt und beeinträchtigt war.

Sicher kann die Anwendung über die ursprüngliche Bedeutung auch mal (in mehrfacher Hinsicht) hinausgehen. Trotzdem ist es sicherer, wenn man ganz nahe bei der Schrift bleibt. Es scheint mir hier in Hohelied 5 nicht der Gedanke zu sein, dass der Tod Christi vorgestellt werden soll, es geht mehr um seine Person.

Bei den schwarzen Locken des Bräutigams (Hld 5,11) zieht man oft eine Verbindung zu den Nasiräern, die langes Haar trugen (4. Mo 6). Damit wiederum wird verknüpft, dass der Herr als Abgesonderter, als wahrer Nasiräer, seinen Weg ging. Doch: Es wird nirgends gesagt, dass der Bräutigam langes Haar hatte. Herabwallende Locken zu haben, bedeutet doch noch lange nicht, ein Nasiräer zu sein! Und außerdem war der Bräutigam, der König Salomo, historisch gesehen, sicher kein Nasiräer. Das geht aus der Tatsache hervor, welcher Bedeutung dem Wein im Buch des Hohenliedes zugewiesen wird (Hld 4,10; 5,1; 8,2) – Nasiräer durften jedoch kein Wein trinken.

Aber vielleicht noch ein deutlicheres Beispiel: „Sein Leib ein Kunstwerk von Elfenbein“ (Hld 5,14). Hier greift man gern auf eine wörtliche Übersetzung zurück und redet von „Eingeweiden“ und nicht von „Leib“. Darauf aufbauend, spricht oder schreibt man dann von den Empfindungen des Herrn, wie kostbar sie waren usw. Auch wenn die Übersetzung „Eingeweide“ möglich ist, so ergibt sie doch gar keinen Sinn (in der Elberfelder Übersetzung wird darum zu Recht auch nicht in einer Fußnote auf die Übersetzungsvariante hingewiesen). Denn die Braut beschreibt doch niemals die Eingeweide ihres Bräutigams! Ich habe zum Beispiel noch nie eine Frau über die schönen Nieren ihres Mannes reden hören. Und wie sollten die inneren Organe denn auch sinnvoll mit (weißem) Elfenbein verglichen werden? Der Vergleich geht nicht, und darum kann auch die Anwendung auf die Gefühle des Herrn nicht passend sein. Die Braut beschreibt mit diesen Worten die makellose und faszinierende Schönheit des Körpers des Bräutigams (und zwar geht es um den Rumpf, also um den Teil, der die Eingeweide bedeckt; den Kopf, die Arme und die Beine beschreibt sie anderweitig). In der Anwendung auf Christus können wir von seiner herausragenden moralischen Erscheinung sprechen sowie von seiner königlichen Würde (Elfenbein steht mit dem Königtum in Verbindung), die verbunden ist mit einer himmlischen Herrlichkeit (= blaue Saphiren).